Nostalgia
„Wann wird es endlich wieder so, wie es niemals was?“
Eine musikalische Reise durch Länder, die es nicht mehr gibt. Mit realen und spekulativen Souvenirs aus der DDR, Jugoslawien und der EU.
Diese Episode befindet sich aktuell in der Postproduktion.
Weitere Informationen zur Veröffentlichung folgen in Kürze.
In „Nostalgia“ beschäftigen wir uns mit dem Phänomen der kollektiven Nostalgie insbesondere der Ostalgie im Kontext der ehemaligen DDR und der Yugonostalgie in Bezug zum ehemaligen Jugoslawien.
Woher kommt diese Sehnsucht nach einer anderen Zeit, nach einem anderen Ort, an dem alles vermeintlich besser war? Sind es die un-erfüllten sozialistischen Träume, die uns heute noch faszinieren? Werte wie Solidarität, die in der europäischen Union wie leere Hülsen klingen?
Kann Nostalgie mehr sein, als ein Ausdruck von Unbehagen mit der Gegenwart, mehr als ein Fluchtimpuls oder melancholische Rückbesinnung?
Um Antworten zu finden, öffnen wir die Schubladen der Großeltern unserer Protagonistinnen Nadja Lindner aus Bautzen und Višnja Sretenović aus Belgrad. Wir sprechen mit ihren Familien und setzen diese persönlichen, ambivalenten Erfahrungen vom Fall der Mauer und dem Zerfall Jugoslawiens in Bezug zu einer soziologischen Analyse von Nostalgie. Durch das Hörspiel begleitet uns die Stimme der Sprecherin Isabel Bröckerhoff. Sie verbindet Information und Poesie und führt uns von Erinnerungen zu Expert:inneninterviews durch das musikalische Feature. Wir hören die Kassetten von den Bands, die es nicht mehr gibt, aus den Ländern, die es nicht mehr gibt und langsam steigt unsere Körpertemperatur - eine der Nebenwirkungen von Nostalgie. So aufgeheizt widmen wir uns wieder unserer Frage: Kann Nostalgie auch zukunftsgewandt sein? Und wenn ja, wie? Dazu laden wir Menschen aus ganz Europa zu einem Gedankenexperiment ein: Was würdet ihr vermissen, wenn es die EU nicht mehr gäbe? Welche Andenken an eine europäische Union würdet ihr in euren Nostalgieschubladen aufbewahren? Und können diese spekulativen Souvenirs in eine andere Zukunft führen?
von Nadja Lindner
Zu Besuch bei meinen Großeltern sein, ist immer ein bisschen, wie in die Vergangenheit reisen. Die Zeit scheint hier still zu stehen oder zumindest vergeht sie ein ganzes Stück langsamer. Nicht im Geist von Oma und Opa, es liegt eher an den Dingen, den Möbeln und Gegenständen ihrer Wohnung. Mein Opa kann Türen öffnen und durch sie die Vergangenheit eintreten lassen. Mal ist es ein Buch, das er aus einem Schrank hervor kramt, mal ein Souvenir einer Reise mit seiner Geschichte und manchmal öffnet er auch die Schublade.
Sie ist schwergängig, weil sie voll beladen in der massiven Schrankwand steckt. Opa muss sich anstrengen, um sie zu öffnen. Ihr Inhalt ist das Tor zum Damals: Kassetten! Sorgfältig geordnet liegen sie aneinander gereiht und gestapelt. „Ich möchte, dass du dir das mal anhörst.“ sagt Opa und holt eine Kassette heraus. Die Schachtel in seinen großen Händen, er öffnet sie behutsam, entnimmt sie mit Daumen und Zeigefinger. Plop! Das Maul des Recorders öffnet sich. Es verschlingt den eckigen Tonträger, entziffert den Magnetismus, gibt ihn wieder als Melodie, Geräusch oder gesprochenes Wort.
Wenn sich eine Kassette im Tonbandgerät verheddert hat, kann man sie mit einem Bleistift wieder aufspulen. Das Geräusch, das der Bleistift dabei in dem Loch mit den Plastikzähnen macht, fand ich als Kind immer toll. Ich werde nostalgisch, wenn ich die an die Kassetten denke, und Opa, wenn er sie anhört.
Sie nehmen uns mit auf eine Reise in ein Land, das es nicht mehr gibt. Ein Exkurs in die beschauliche Welt von damals, mit all ihren Problemen und Widersprüchen. Aus der Kassettenhülle strömt mir ein Geruch entgegen, etwas muffelig, leicht chemisch und doch so vertraut. Es riecht nach DDR!
Viele Fragen gehen mir durch den Kopf: Wie fühlte es sich an, das Land von damals? War es wirklich einfacher als heute? Fühlte man sich eingesperrt? Wonach haben sich die Menschen gesehnt? Wie hat man miteinander gesprochen? Was war erlaubt? Was nicht? In den endlosen Metaphern der Musik von damals findet sich vielleicht eine Antwort.
von Višnja Sretenović
Eine Schublade voll mit Gegenständen.
Manche von ihnen empfinde ich augenblicklich wie kleine Gräber der Ideen, für die sie stehen. Immer noch, im dunkeln. Die Ideen sind umgekommen, noch bevor die Besitzer der Gegenstände starben.
Gesichter schauen mich aus dieser Schublade an. Kleine Leichen auf einem Seziertisch, meine Kamera ein Seziermesser. Ich sehe das Foto von meinen Urgroßeltern, die in der Monarchie Kraljevina Jugoslavija / Das Königreich Jugoslawien - „im Ersten Jugoslawien“ - ihre Kinder großgezogen haben. Die Kinder sind auch auf dem Foto.
An meine Urgroßmutter erinnere ich mich ein bisschen, eigentlich nicht wirklich an sie sondern an die Geräusche, die sie produzierte, als sie auf dem Sterbebett lag. Wieder ein Sterblichkeitspuff in meinem Gesicht.
Da ist auch ein Foto von meiner Oma und meinem Opa, die ihre Kinder in einem sozialistischen Staat erzogen haben - Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien oder „Zweites Jugoslawien“.
In der Schublade liegen viele vergoldete Anstecknadeln mit rotem fünfzackigen Stern und dem Wappen mit der Flamme, die für Brüderlichkeit und Einheit steht. Die sind von meinem Opa. Er hat diesen Schmuck für die Mitgliedschaft in der Partei bekommen. Ich erinnere mich daran, wie wir zu zweit in seinem stickigen Zimmer auf dem Sofa sitzen und, er mir ganz stolz, diese Nadeln präsentiert. Ich fand das epochal, episch, monumental, heilig! So Etwas großes, so Etwas wichtiges (ich wusste aber nicht was dieses “Etwas” ist) gibt meinem Opa so viel Anerkennung und Geschenke?! Wow Ich lebte bis ich 5 Jahre alt war in diesem Land, das meinen Opa beschenkte (und er beschenkte es im Gegenzug mit Blut, das er regelmäßig für seine Kameradinnen und Kameraden gespendet hat.)
Der Ausweis meines Opas, in seinem Gesichtsausdruck liegt Stolz.
Weiter.
Das Foto meiner wunderschönen Mama mit ihren Sommersprossen und kurzen schwarzen Haaren, frisiert wie bei Elvis Presley.
Erinnerung an noch was kaputtes. Die kaputte Ehe meiner Eltern, die auf dem Höhepunkt des Krieges ihr zweites Kind bekommen. Mein Bruder (wir beide sind in der Schublade nicht zu finden) ist in einem dritten Land, ein sehr lustiges und sehr nerviges Kind geworden, in der Bundesrepublik Jugoslawien - in „Restjugoslawien“.
Ob in der Schublade was aus dieser Zeit lag, weiß ich nicht mehr. Eher nicht.
Stell dir vor: Die EU ist Geschichte. Stell dir vor: Alles, was von ihr bleibt, sind Erinnerungen. Stell dir vor: Du würdest all diese Erinnerungen in eine Schublade stecken. Was bleibt für dich? Was hast du verloren? Was wünscht du dir zurück?
“[…]nostalgia, in my view, is not always retrospective; it can be prospective as well. The fantasies of the past determined by the needs of the present have a direct impact on the realities of the future. Considering the future makes us take responsibility for our nostalgic tales. While futuristic utopias might be out of fashion, nostalgia itself has a utopian dimension, only it is no longer directed toward the future. Sometimes it is not directed toward the past either, but rather sideways.“
Svetlana Boym: Nostalgia
—
Nadja Lindner: Wie sehen Sie das, kann Nostalgie auch ein utopisches Potential haben, etwas Zukunftsgewandtes sein?
Christiane Kirchhoff: Naja, ich glaube vielleicht als Moment. Also, wenn man nicht dabei stehen bleibt, in das Alte zurück zu wollen, sondern es vielleicht nutzt, um sich an etwas zu erinnern, was man in die Gegenwart retten oder wiederholen möchte.
—
“What is extremely important for me is this political nostalgia, emancipatory nostalgia which is active, which is engaged, which criticizes the present from the perspective of [a] better past. So again, you know, nostalgia can be also [a] strong political force. I mentioned before it can be used by all kind[s] of, you know, political forces and parties, from churches to conservatives, but also for the criticism of what is going on today in Eastern Europe, and especially in ex-Yugoslavia, so against ethnonationalism and against neoliberalism.”
Mitja Velikonja im Gespräch mit Peter Korchnak - „from the Russian Blocks and the Deficit of Yugoslavia“ im Podcast “Remembering Yugoslavia”, Episode 30
—
“..dass Nostalgie auch etwas Wertvolles sein kann, das uns verbindet, wenn es eben nicht darum geht zu einem bestimmten Zuhause, zu einer bestimmten Heimat zurückzufinden, ein Land wiederherzustellen, das es mal gab. Also dass es eben nicht an eine Nation gekoppelt ist, sondern eigentlich an eine bestimmte Zeit - eben dieses Gefühl von longing, eher als belonging.”
Heike Bröckerhoff
Konzept, künstlerische Leitung, Sprecherin : Heike Bröckerhoff
Künstlerische Mitarbeit, Text, Sprecherinnen: Isabel Bröckerhoff, Nadja Lindner, Višnja Sretenović
Sound Design: Alex Geell
Spekulative Europahymne: Don Lupo & the Kinks (Nils Tresselt/Max Nawroth)
Interviews mit: Frank Lindner, Dr. Christine Kirchhoff, Prof. Dr. Sighard Neckel, Vesna Sretenović und Djordje Sretenović
EU-Schubladen: Lisa Albrecht, Sarah Böger, Umberto Cutillo, Teresa Dobysz, Bernat Guerrero Dorado, Thomas Heinser, Lisa Malmheden, Okka Lou Mathis, Peter Szillat, Florian Wieczorek
Mit Auszügen aus dem Podcast Remembering Yugoslavia von Peter Korchnak im Gespräch mit Tanja Petrović und Mitja Velikonja
Mit Musik von u.a. Wolf Biermann, Arsen Dedic/Ivica Bobinec, Bijelo Dugme, City, Denis&Denis, Electricni Orgazam, Gerhard Gundermann, Nina Hagen, Karat, Sladjana Milosevic, Oktoberclub, Partizanski pevski zbor, Plavi Orkestar, Puhdys, Sandow, Šarlo Akrobata, Sonja Schmidt, Gerhard Schöne, Slobodna Europa, Angelika Weiz und G.V.O
O-Töne: 1000 kleine Dinge (DDR Werbung 60er Jahre) und President Tito Talks To UN (1963)
Inspiriert von Svetlana Boym.
Podcast Remembering Yugoslavia von Peter Korchnak
Primož Krašovec: (Yugo)nostalgia
©2022 Heike Bröckerhoff